Reflexionen über die Beatles und das Zeitalter der „Orientierung an Gleichaltrigen“

01/08/2022

Die vier Beatles und mein Sohn

von Jule Epp

Mein Sohn ist ein großer Fan der Beatles. Er hat überall in seinem Zimmer Beatles-Poster. Er spielt alle Beatles-Songs auf seinen Gitarren. Er möchte alles über Leben und Persönlichkeit der einzelnen Mitglieder wissen und wie sich das auf die ganze Gruppe und die Entwicklung ihrer Musik ausgewirkt hat. Er schaut sich Dokumentarfilme über den Einfluss der Beatles auf die Musik anderer Bands an. Und er sieht sich Dokumentarfilme über die größere historische Bedeutung der Beatles bis in die Gegenwart an. Ein Filmtitel fesselt ihn besonders: How the Beatles Changed the World. Nun, seine Welt haben sie ganz bestimmt verändert. Aber, wie der Film zeigt, auch den Rest der Welt.

Die Beatles betraten Anfang der 1960er Jahre die Weltbühne und ebneten wohl den Weg für die Explosion der revolutionären Jugendkultur nach dem Zweiten Weltkrieg.  Warum? 

Die Welt stand nach den Nazi-Verbrechen noch immer unter Schock. Ganz Europa war physisch und moralisch verwüstet; der Glaube an den Mythos vom “starken Mann” als Leitfigur war nachhaltig erschüttert. Die Angst vor einem möglichen Atomkrieg ging um. Hinzu kam die Bestürzung darüber, dass die westlichen Gesellschaften noch immer von tiefverwurzeltem Rassismus geprägt waren.

Allein gelassen in dieser Leere, sehnten sich die Heranwachsenden nach jemandem, der ihnen neue Orientierung bot. Jemand musste neue Antworten liefern, die der Welt, die sie erlebten, Sinn gaben. Jemand, der eine Vision mitbrachte, die zu einer besseren, erfüllteren Zukunft führen würde. Die alten Lösungsangebote ihrer Eltern schienen leer, hohl, nicht mehr relevant. Und so übernahmen die Jugendlichen ohne echte Führung allein die Verantwortung: Eine selbstbezogene Jugendkultur begann sich zu entwickeln.

Das ist eine Dynamik, die wir ständig bei unseren Kindern sehen. Es ist die menschliche Natur. Wenn wir als Eltern nicht in der Lage sind, zuzuhören, auf die verletzlichen Bedürfnisse unserer Kinder einzugehen und ihnen glaubwürdige Sicherheit zu bieten, geraten sie in einen Alarmzustand. Sie fühlen sich verlassen. Sie fallen in eine Bindungs-Leere. Eine solche Leere kann ein Kind nicht lange aushalten. Und so übernehmen seine Urinstinkte die Führung und finden eine Lösung: Das Kind wird dazu bewegt, sich instinktiv an etwas anderes zu binden. Es greift nach dem Nächstliegenden - und das sind meist andere Kinder. Natürlich können andere Kinder nicht den reichen, fruchtbaren Boden der Sicherheit bieten, der für die Reifung benötigt wird, aber sie können den Anschein einer Heimat bieten und eine Möglichkeit, sich über Wasser zu halten. Das ist besser als die Leere. Es bewahrt sie vor dem Ertrinken.

Mein Sohn ist auf dem autistischen Spektrum. Er weiß alles über die Art von Leere, die entsteht, wenn Bindungen einem nicht genügenden Halt geben. Sein Gehirn ist immer bereit, sich an etwas anderes zu klammern, um sich über Wasser zu halten. Und dann hält er es fest, als ob es um sein Leben ginge. Glücklicherweise fand er die Beatles - wie viele Jugendliche in den 60-er und 70-er Jahren. Die Dokumentarfilme der Beatles, die mein Sohn sieht, zeigen uns Fans in Ekstase. Sie klammern sich an die Bindungslösung, die ihr Gehirn gefunden hat: Paul! John! George! Ringo! .... Der schicksalhafte Kommentar von John Lennon „Wir sind größer als Jesus!“ beschreibt deutlich die Art von tiefer Leere, die die Beatles füllten.

Es war keine Leere, die sie füllen wollten. Sie waren Musiker und Komponisten. Sie wollten aufmerksame Zuhörer für ihre innovative Musik. Und doch konnten so viele die Beatles nicht mehr „hören“ … symbolisch und buchstäblich. Ihre Musik wurde übertönt von hysterischen Schreien aus dem Publikum. Immer wieder sehen wir in den Dokumentarfilmen, wie sehr dieses betäubende Geschrei die Beatles frustrierte. Eigentlich wollten sie ihr Publikum doch “nur” mitnehmen auf ihre Entwicklungsreise: Sie schrieben immer komplexere Melodien und Texte, verbanden alte Kirchenmodus-Akkorde mit Musikstilen aus anderen Kulturen, erforschten neue Technologien, und vieles mehr.

Aber auf ihrem musikalischen Höhepunkt waren die Beatles für viele einfach zu einer hohlen Ikone geworden. Für viele erfüllten die Beatles jetzt eher die Funktion, eine Leere zu füllen, als eine Inspiration für kreative Erforschung und künstlerischen Ausdruck zu sein. Das ist die Gefahr der Ersatzbindungen, die in einer Leere entstehen. Sie neigen dazu, flach, obsessiv und fanatisch zu werden. So ungenügend wie Twitter oder TikTok, um Bindungsbedürfnisse zu befriedigen, neigen Ersatzbindungen dazu, sich mit der Zeit leer anzufühlen - neigen sogar mit der Zeit die Leere zu verstärken. Wir haben dies bei einem der größten Fans von John Lennon gesehen, der enttäuscht darüber war, dass John Lennon ihn nicht erfüllen und „seine Antwort“ sein konnte, und schließlich sein Gefühl des Verrats zum Ausdruck brachte, indem er sein ehemaliges Idol ermordete. Ja, es gab einen Verrat, aber es war nicht John Lennon, der ihn verraten hat. Das war der Verrat, der der Jugendkultur, die zu versprechen schien, genug sein zu können, innewohnt. Sie schien zu versprechen, dass sie in der Lage sein würde, die Leere zu füllen.

Aber das hat sie nicht. Und kann sie auch nicht. Das Buch „Unsere Kinder brauchen uns!“ von Dr. Gordon Neufeld und Dr. Gabor Maté untersucht die gegenwärtigen Folgen der Jugendkultur, die mit den Beatles entstand. Inzwischen hat die Jugend aus der Zeit der Beatles selbst Kinder bekommen … und Enkelkinder. Wir sind generationsübergreifend in das eingetaucht, was Dr. Neufeld und Dr. Maté als „Gleichaltrigenorientierung“ bezeichnet haben, nämlich wenn sich Kinder einander zuwenden anstatt Erwachsenen als ihren primären, psychologischen Nordpol. Weit verbreitete Gleichaltrigenorientierung bedeutet, dass die Unreife der Jugend heute kulturelle Normen bestimmt – und eine riesige Industrie antreibt.

Die Gleichaltrigenorientierung ist inzwischen allgegenwärtig und viele kennen nichts anderes. Aber das bedeutet, dass wir uns angesichts einer alarmierenden Welt weiterhin in der ursprünglichen Leere der 60er Jahre ohne Führung und Verantwortung befinden. Dr. Neufeld nennt dies das Fehlen eines „fürsorglichen Alphas“, in dem Kinder Ruhe und Sicherheit finden sollen. Wo finden wir unsere Ruhe und Sicherheit? Angesichts dieser Frage übernehmen unsere Kinder immer noch die Verantwortung selbst – sie versuchen in unserer Abwesenheit – in einer Art griechischer Hybris – einander anzubieten, was wir als Eltern anscheinend nicht in uns selbst finden können, um es ihnen anzubieten.

Also was können wir tun? Wie können wir aus der obsessiven Lobhudelei der Jugendkultur heraustreten und wieder darauf hören, was unsere Kinder eigentlich von uns brauchen? Ironischerweise können wir uns für eine Antwort an die Beatles wenden. Paul McCartney verlor seine Mutter früh an Krebs. Ebenso verlor John Lennon seine Mutter in seiner Jugend bei einem Autounfall. Paul und John sind mit der persönlichen Leere des Verlusts eines Elternteils aufgewachsen. Und tatsächlich glaubte Paul McCartney, dass sowohl er als auch John versuchten, den Tod ihrer Mütter durch ihre Musik zu verarbeiten. McCartneys „Let It Be“ zum Beispiel wurde tatsächlich für seine Mutter Mary geschrieben. Es ist eine unglückliche Verdrehung, dass ihre Zuhörer nicht in der Lage waren, dasselbe für sich selbst zu tun – ihren Verlust „der Eltern“ kreativ Ausdruck zu geben, um in einem Prozess der innere „Versöhnung“ einzutreten. Stattdessen hat die kulturelle Elternleere der 60er uns, die Kinder, hungrig und so verzweifelt nach Sättigung suchend zurückgelassen, dass wir nicht wirklich hören konnten, was die Beatles uns zu sagen hatten. Als Konsequenz dominiert seitdem die Jugendkultur mit ihrer Gleichaltrigenorientierung.

Vielleicht ist es also an der Zeit, dass wir uns die Beatles wieder wirklich „anhören“. Wie McCartney und Lennon müssen wir einen Weg finden, unseren Verlust und unsere Trauer in einer Welt ohne klare Antworten, ohne klare Wegweiser auszudrücken. Damit wir dem Sog der jugendkulturellen Leere besser widerstehen können. Damit wir – trotz aller Unsicherheiten – in uns jenen Ort finden, der unseren Kindern in dieser besorgniserregenden Welt eine Zuflucht der Sicherheit und Orientierung sein kann. Wie McCartney ihn fand in „Let It Be“.

Und vielleicht ist es auch für uns an der Zeit, das zu tun, was mein Sohn tut: Uns den Beatles anzuhören, um uns auf unserer eigenen Reise der Reifung zu inspirieren. Wenn wir uns auf eine solche Reise begeben – unsere Vergangenheit in unsere Gegenwart integrieren und Visionen für eine bessere Zukunft entwickeln, wie es die Beatles taten – können wir unsere eigene einzigartige Stimme finden und klare Leuchttürme für unsere Kinder werden. Durch unsere eigene Entwicklung können wir dann unseren Kindern Halt bieten, damit sie Ruhe finden können, auch wenn die Welt um sie herum zusammenzubrechen scheint.

empty