Brücke zwischen den Welten: Wie Kindheit und Alter sich gleichen

01/12/2022

von Miriam Gass

Einer der poetischsten Orte ist für mich die Demenzstation des anthroposophischen Pflegeheims, in dem meine 86jährige Mutter seit einem Jahr lebt. Das mag seltsam klingen. Und liegt mit Sicherheit auch daran, dass ich dort nur zwischendurch als besuchende Angehörige bin. Doch jedes Mal, wenn ich meine Mutter in ihrem Pflegeheim besuche, bezeuge ich vor allem eines: Mitmenschliche Wärme und Verbindung.

Wärme und Verbindung zwischen den Heimbewohnern untereinander. Und zwischen den Bewohnern und den pflegenden Menschen (welch ein Segen!). Eine Verbindung, die weniger durch Worte, sondern viel eher über Gesten körperlicher Berührung - und über Spiel zustande kommt. Genau die Ebene von Verbindung, die es mit unseren kleinen Kindern auch braucht!

Kleine Kinder leben in einer Welt, die natürlicherweise voller Sinnlichkeit, Spiel und Magie ist.
Um sich ihrer Welt zu nähern, braucht es - wie bei den alten Menschen auch - Wärme, Feinfühligkeit und vor allem: Verlangsamung.

Denn: Unsere Vorschulkinder sind keine kleinen Erwachsenen! Sie leben aufgrund ihres unreifen Gehirns in einer anderen Welt. Sie brauchen länger, bis Informationen bei ihnen landen. Sie ticken einfach anders als wir!

Sie sind Wesen, die nur im Hier und Jetzt leben. Impulsive Wesen, deren Gefühle rein und heftig sein können. Schwarz-weiß-Wesen, die nur entweder-oder kennen und kein sowohl-als-auch. Gehirnphysiologisch fehlt Kindern unter 7 ein voll funktionsfähiger präfrontaler Kortex. Der Bereich in unserem Gehirn, der plant, strukturiert, vorausdenkt. Der präfrontale Kortex kann aber noch viel mehr: Er hilft uns, Gefühle zu mischen und zu mäßigen. Er ermöglicht uns geduldiges und rücksichtsvolles Verhalten. Und macht uns zu sozialen Wesen.

Aber ein Kind unter 7 ist da noch nicht…Und das entspricht genau dem natürlichen Entwicklungsplan! Ein Kind unter 7 darf - ja, es muß sogar - zuerst Raupe sein, bevor es sich mit zunehmender Gehirnreife mehr und mehr in den Schmetterling hinein entwickelt.

Für diese Entwicklung braucht ein Kind aber seinen Kokon: Es braucht die Erlaubnis, zu spielen. Die Erlaubnis, zu fühlen. Und es braucht sichere Bindungen zu fürsorglichen Erwachsenen! Erwachsene, die mit ihrer Reife die Unreife des Kindes kompensieren. Erwachsene, die darauf vertrauen, dass aus der Raupe ein Schmetterling wird.

Wenn wir unsere Kinder durch diese Zeit der Verwandlung fürsorglich hindurch begleiten, werden wir reich beschenkt. Durch ein verschmitztes Kinderlächeln, ein liebevolles Ankuscheln oder ein selbstgemaltes Bild voller Herzchen. Und zu seiner Zeit: Durch das überraschende Auftauchen von kleinen Schmetterlingsflügeln!

Und bei den alten Menschen – wie bei meiner Mutter? Bei ihnen geht’s um die rückwärtige Verwandlung: Der präfrontale Kortex bildet sich zurück. Der Weg geht zurück in den Kokon. Stimmen wir uns darauf ein, entsteht auch hier Verbindung! Verbindung, von der aus meine Mutter – auch wenn sie mich nicht mehr als ihre Tochter erkennt – meine Hand nimmt und mir die drei Worte zuflüstert, die immer zählen: „Dich lieb ich!“

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